Komplexe Fragen, einfache Antworten?

Stellungnahme der antifaschistischen gruppe 5 zum Flugblatt des ak:raccoons vom 15.06.16

 

Am 12. Juni 2016 ereignete sich in Orlando, Florida, USA ein Attentat auf die dortige LGBT*IQ-Community. Im Szene-Club „Pulse“ wurden 49 Personen ermordet und 53 weitere verletzt – das gravierendste Attentat mit homo- und trans*feindlichem Hintergrund der jüngeren Geschichte. Der Attentäter berief sich dabei auf den Islamischen Staat (IS).

Anlässlich dieses Ereignisses fand am 15. Juni 2016 eine durch das Autonome schwultransqueer Referat Uni Kassel organisierte Mahnwache statt. Die Veranstaltung sollte Raum für Trauer, Wut und Bestürzung geben und trotz bzw. gerade wegen der der Queer-Community von vielen Seiten entgegenschlagenden Ablehnung und Gewalt öffentlichen Raum einnehmen [1].

Bei dieser Mahnwache verteilte das „Antifaschistische Kollektiv: Raccoons“ einen Flyer mit dem Titel „Das Problem heißt Islam“. [2] Mit diesem Text übt die Gruppe Kritik an der vermeintlich verkürzten Darstellung der Hintergründe der Tat durch das Autonome schwultransqueer Referat Uni Kassel sowie der linken Szene. Das Attentat dürfe nicht nur als Angriff auf die Queer-Community dargestellt werden. Stattdessen müsse die Zugehörigkeit des Täters zum Islam und seine Bezugnahme auf den IS thematisiert werden. Die Gruppe deutet das Attentat primär als Angriff auf die „westliche Zivilisation“ durch die islamische „Barbarei“. Der Text liest sich wie ein AfD-Pamphlet. Er weist weder einen differenzierten Blick auf das Spannungsfeld „Islam – politischer Islam – Islamismus“ auf, noch ein Bewusstsein für die stets vorhandene Bedrohung von LGBT*IQ durch regressive Akteur_innen überall auf der Welt – über einzelne Religionen hinaus. Auch der politische Kontext des Textes wird ausgeblendet: Der antimuslimische Rassismus [*] in Politik und Gesellschaft wird nicht nur nicht thematisiert, sondern auch mit fragwürdigen „Argumenten“ unterstützt.

Als Bündnispartnerin der Gruppe innerhalb des BASH (Bündnis Antifaschistischer Strukturen Hessen) sehen wir uns in der Verantwortung Stellung zu dem Text des ak:raccoons zu beziehen. Die qrew (queere politgruppe kassel) hat bereits eine fundierte Kritik an diesem Text verfasst [3]. Wir teilen diese Kritik und erklären uns mit ihr solidarisch. Wir wollen hier nicht einfach die Inhalte ihrer Kritik wiederholen, sondern die Gelegenheit nutzen, um auf eine Schwierigkeit für die antifaschistische Arbeit in der aktuellen gesellschaftlichen Situation hinzuweisen, die im Text des ak:raccoons deutlich wird.

Das ak:raccoons entschied sich dazu einen Text zu verfassen, der den Islam als Quelle gesellschaftlichen Rückschritts und antihumanistischer Einstellung darstellt. Die Gruppe sah sich in der Verantwortung eine vermeintliche Leerstelle in der öffentlichen Wahrnehmung zu besetzen. Dass diese Deutung bereits sehr populär ist und meist von Gegner_innen antifaschistischer Politik propagiert wird, ließ sie dabei außer Acht. Ihr scheinbares Anliegen, einen Aufruf zu emanzipatorischer Auseinandersetzung mit Homophobie im Islam zu formulieren, steht im Widerspruch zu dem von Verkürzungen und Ressentiments durchzogenen Inhalt. Es stellt sich die Frage, ob dies ein dummer Einzelfall ist, oder ob die fehlende Differenziertheit auf ein bestehendes Problem innerhalb antifaschistischer Politik hinweist.

Antifaschistische Politik agiert in einem komplexen gesellschaftlichen Kontext. Unsere antifaschistische Politik richtet sich gegen jede gesellschaftliche Unterdrückungsstruktur, also u.a. gegen Rassismus, Kulturchauvinismus, Patriarchat, Homo- und Trans*feindlichkeit sowie antiemanzipatorische religiöse Einstellungen und Menschenfeindlichkeit. Der Kampf gegen diese Strukturen beinhaltet den Kampf gegen gesellschaftliche und politische Akteur_innen, die diese aufrechterhalten oder zu stärken versuchen.

Als Antifa-Gruppe arbeiten wir gegen antimuslimischen Rassismus, der in der deutschen Gesellschaft auf einem neuen Höhepunkt zu sein scheint. In kulturchauvinistischer Manier wird der Islam als Inbegriff des Rückschritts und der Unterdrückung aller, die vom gegebenen gesellschaftlichen Leitbild abweichen, gezeichnet. Er dient dabei als Abgrenzungsmoment zur Inszenierung der eignen Toleranz, Weltoffenheit und des gesellschaftlichen Fortschritts. Im Text des ak:raccoons findet sich diese Denkweise in der Glorifizierung der „westlichen Zivilisation“ in Abgrenzung zur islamischen „Barbarei“, einem aus der Kritischen Theorie entlehnten Begriff, dessen Verwendung in diesem Kontext kaum in Bezug auf Adornos Werk gelesen werden kann. Die die „westliche Zivilisation“ strukturierenden Herrschaftsformen und die vorhandenen regressiven Elemente werden ausgeblendet.

In alter Manier wird die Welt in „Orient und Okzident“ aufgeteilt, was aber spätestens seit der Globalisierung, aber auch schon vorher – Osmanisches Reich – nicht der globalgeschichtlichen Realität entspricht: An dieser Stelle sei auf die muslimisch geprägten Länder in Osteuropa verwiesen, sowie auf die aus Migration resultierende Zusammensetzung „westlicher“ Gesellschaften. Historisches Beispiel: Erste Moschee in Deutschland in einem Internierungslager für Kriegsgefangene aus dem ersten Weltkrieg in Brandenburg.

Der Hass und die Gewalt, den die LGBT*IQ-Community weltweit erfährt, lässt sich nicht – wie in dem ak:raccoons Text versucht – ausschließlich auf den Islam und islamische Migration zurückführen. Zur Analyse und Kritik von Homo- und Trans*feindlichkeit müssen u.a. auch die Christliche Wertegemeinschaft und ihre Machtressourcen sowie deutsche Leitkultur miteinbezogen werden. Eine umfassende Patriarchatskritik muss als notwendiger Bestandteil antifaschistischer Politik angestrebt werden.

Es bleibt festzuhalten, dass es „den Islam“ nicht gibt. Der Text des ak:raccoons phantasiert einen homogenen Islam herbei, und stellt diesen als großen Bösewichten und Antagonisten der westlichen Welt dar. Es werden sämtliche emanzipatorischen Kämpfe, die geführt werden, als dem Islam unzugehörig imaginiert. Dies ist ein Schlag ins Gesicht für progressive Strömungen und Akteur_innen innerhalb islamisch geprägter Gesellschaften. Auch, dass die Mehrheit der Kämpfer_innen gegen den IS muslimischen Glaubens ist, wird verschwiegen, oder dass es beispielsweise innerhalb der Islamischen Republik Iran politisch aktive LGBT*IQ-Communitys gibt, die u.a. auch durch muslimische Selbstverständnisse geprägt werden.

Wir sehen die Notwendigkeit und Verantwortung Strömungen des politischen Islams zu kritisieren, aber lehnen unzulässige Verallgemeinerungen und die kategorische Verurteilung aller Muslime ab. Klar sollte hierbei sein, dass es richtig und wichtig ist den Islam im Sinne einer emanzipatorischen Religionskritik zu kritisieren. Wir finden es verkürzt dies anhand von wenigen Quellen, Zahlen und Behauptungen zu tun, wo doch selbst bei oberflächlicher Lektüre des Textes festgestellt werden kann, dass die Behauptungen mehr leere Worthülsen sind, denn mit Wissen und Sachkenntnis unterfüttert.

Wir müssen antimuslimischem Rassismus, insbesondere dann, wenn er unter dem Deckmantel antifaschistischer Religionskritik erscheint, entschieden entgegentreten.

Der Kampf gegen gesellschaftliche Unterdrückungsstrukturen ist nicht frei von Widersprüchen und Ambivalenzen. Die Verteidigung der Religionsfreiheit bei gleichzeitiger Religionskritik und die Ablehnung antimuslimischen Rassismus‘ bei gleichzeitiger Solidarität mit Betroffenen von Islamismus und antiemanzipatorischen religiösen Einstellungen führt oftmals zu diesen.

Die Komplexität des Themas darf aber weder zu Resignation noch zu verkürzten „Analysen“ wie der des ak:raccoons führen. Vielmehr müssen Akteur_innen antifaschistischer Politik die Relevanz des Themenkomplexes anerkennen und durch inhaltliche Auseinandersetzung und Diskussion Handlungsstrategien entwerfen und Wissenslücken schließen.

Die notorisch privilegierte Antifa kann zudem nicht ohne eine Reflexion ihrer eigenen Perspektiven auskommen. Das Verteilen von Flyern, die die Trauer einer Betroffenengruppe auf diese Weise kritisieren, zeugt nicht nur von geringer Empathie, sondern auch von einem fehlenden Verständnis für die Politik des Gedenkens.

Queere Kämpfe sind antifaschistische Kämpfe. Wir fordern Solidarität und Auseinandersetzung, auch von Akteur_innen, die nicht negativ von (Hetero-)Sexismus, Homo- und Trans*feindlichkeit betroffen sind.

Die Suche nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen ist nicht Antifa!

[*] Antimuslimischer Rassismus wird auch von Menschen erfahren, die gar keine Muslime sind, sondern durch ihr Äußeres, Namen, Kleidung und Sprache als Muslime rassifiziert werden.

[1] https://de-de.facebook.com/events/1062271807192527/

[2] http://raccoons.blogsport.de/2016/06/16/das-problem-heisst-islam/

[3] http://qrew.blogsport.eu/2016/06/18/das-patriarchat-bleibt-stabil/